Kolumne „Besser wissen“, Folge 9: X und andere Unbekannte

Der Abstieg von Twitter zeigt eindrucksvoll, wie abhängig manche Kommunikationskanäle von Algorithmen und der Willkür ihrer Betreiber sind.

Bis 2015 hat er als „Professor Holger“ noch regelmäßig Wissenschaftsfragen auf WDR-1Live beantwortet, jetzt analysiert RRC-Mitglied Holger Wormer in unserem Blog sowie im Berliner Tagesspiegel regelmäßig Interessantes, Seltsames und manchmal sogar Absonderliches aus der Welt der Wissenschaftskommunikation.


Gehen oder bleiben? Die Entscheidung treibt nicht nur private Twitternutzer oder Unternehmen um. Auch Universitäten und andere Forschungseinrichtungen beschäftigen sich spätestens seit dem Namenswechsel von Twitter zu „X“ Ende Juli mit der Frage, ob sie von dem Kurznachrichtendienst auf andere Kanäle wechseln sollen. Dass Elon Musk kritische Forscher gezielt attackiert, weil sie in dem Dienst zunehmend einen Kanal für Desinformation und Hassrede erkennen, ist dabei nur ein Aspekt. Die Akte „X“ zeigt vor allem eins: wie fragil viele Kanäle sind, auf die man in der Wissenschaftskommunikation gerne setzt.

An sich ist das keine neue Erkenntnis. Schon vor dem Kauf des Kurznachrichtendiensts durch Musk waren Willkür und Unwägbarkeiten auf allen großen Plattformen offenkundig. So konnte es passieren, dass eine mühsam aufgebaute Präsenz über Nacht auf Mikroreichweiten abstürzte – weil eine Plattform ihre Auswahlalgorithmen so verändert hatte, dass das Angebot kaum noch angezeigt wurde.

Der Schaden durch unberechenbare Social-Media-Kanäle kann erheblich sein – und das letztlich sogar für den Steuerzahler: Immerhin können sich die Kosten für die Social Media-Aktivitäten einer Universität schnell auf 70 000 bis 200 000 Euro pro Jahr summieren, wie eine Studie unter Beteiligung des Berliner Kommunikationswissenschaftlers Klaus Beck schon vor einigen Jahren abschätzte.

Generell täte die Wissenschaft im Sinne der demokratischen Meinungsbildung gut daran, sich in Forschung und Politikberatung vermehrt dem Umgang mit X et al. zu widmen. Einige Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die Idee einer nicht-kommerziellen europäischen Digitalplattform mit hochwertigen Inhalten etwa.

Oder die Forderung, dass alle Plattformen ihre Algorithmen transparent machen müssen – damit es für Nutzer keine Unbekannte bleibt, warum ihnen ein bestimmtes Angebot angezeigt wird. Denn man kann es nicht oft genug sagen: Die „kritische Infrastruktur“ einer Demokratie besteht nicht nur Verkehrswegen und Gasleitungen, sondern auch aus Informationskanälen, die es trotz aller Unbekannten zu schützen gilt.

Die Kolumne ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.