Die Zukunft ist beweglich: Quo Vadis, Agilität?

Illustration: ArtTower, Absmeier

Agil heißt beweglich, regsam und wendig. Agilität ist deshalb keine neue Methode, sondern eine Grundhaltung und in ihrer Form altbekannt. Bewegliche Unternehmen, die sich dem Markt und ihren Kundenanforderungen schnell und flexibel anpassen können, sind erfolgreicher. Tayloristische Organisationen hingegen verharren oft in ihrer eigenen Binnenoptimierung. Gerade in schwierigen Phasen, kümmern sie sich mehr um die eigene Organisation als um die sich schnell verändernden Marktgegebenheiten. Arbeitsteiligkeit und Kostenbetrachtung werden immer mehr verfeinert und der Ausbau von Management-Funktionen befeuert sich selbst am Wertentstehungsprozess vorbei und hin zu dessen Lähmung. Die Markt- und Kundenorientierung tritt dabei in den Hintergrund. Über kurz oder lang werden die meisten Unternehmen deshalb gezwungen sein, umzudenken und sich den dynamischen, komplexen Herausforderungen des technologischen Zeitalters zu stellen.

 

Doch wann ist aus kompliziert komplex geworden? Ein Auto zu bauen ist kompliziert, es besteht aus tausenden Einzelteilen, die ineinandergreifen und für einen Laien unmöglich selbst zusammenzusetzen sind. Für einen Mechaniker hingehen ist das Auseinander- und Zusammenbauen eines Autos einfach. Kompliziertheit ist deshalb relativ und lässt sich am Grad des Wissens messen. Komplexität entsteht durch Überraschungen und nicht vorhersehbare Abläufe. Dadurch kann die nächste Entscheidung sinnvollerweise nur aufbauend auf den vorangegangenen Zustand getroffen werden. Komplexe Systeme sind eine Kette aus Überraschungen und bestehen in Unternehmen aus Menschen, den Kunden und sich schnell ändernden Marktgegebenheiten – und dadurch ist Komplexität nicht vorhersehbar.

 

Komplexe Aufgabestellungen erfordern agile Herangehensweisen

Gerade im IT-Bereich ändern sich die Anforderungen ständig und der Wettbewerb ist groß. Der Druck, flexibel und schneller sein zu müssen, steigt. Komplexe Aufgabenstellungen nehmen zu, dabei sind sie oft nur deshalb komplex, weil sie aus den hierarchischen Strukturen der Vergangenheit gewachsen und durch die Interaktion mit Menschen noch verworrener geworden sind. Durch strikte Arbeitsteiligkeit zu spät realisiert, behindern die traditionellen Unternehmensstrukturen die Bewältigung der neuen, sich schnell ändernden Herausforderungen. Oft werden die komplexen Aufgaben mangels Zuständigkeit als nicht zu bewältigen definiert und jahrelang einfach ignoriert – was das Problem noch schlimmer macht: Komplexe Aufgabenstellungen sind allerorts vorhanden. Ein gutes Beispiel zeigt die Automobilbranche, die schon vor Jahren hätte erkennen müssen, dass es einen Wandel braucht. Etablierte Erfolgsmodelle funktionieren nicht mehr, der Diesel wird totgeredet und alternative Energiekonzepte werden am Markt vorbei entwickelt oder sind nicht ausgereift. Kürzlich erst wurde das Verhalten der Automobilindustrie zu Recht mit dem von Nokia verglichen. Das Management von Nokia sagte sinngemäß, sie hätten eigentlich nichts falsch gemacht, seien aber trotzdem nicht mehr am Markt, weil sie am Bewährten festgehalten haben.

Das Beispiel zeigt: Wer mit klassischen Methoden agiert, optimiert sich in internen Prozessen und erhöht die Komplexität weiter – aber schnell am Markt vorbei. Eine Methode, mit der viele gleiche Autos gebaut werden können, ermöglicht damit noch keine Innovationen im Automarkt. Deshalb müssen Problem und angewandte Methoden gut zueinander passen. Um eine neue Richtung einzuschlagen, ist es dann oft zu spät. Festgefahrene Strukturen sowie Versäumnisse im Management fordern dann ihren Tribut.

 

Agilität ist gesunder Menschenverstand

Doch warum sind viele Unternehmen so starr gewachsen? Zum einen sind in vielen Branchen, in denen früher der Hersteller bestimmte was verkauft wird, jetzt die Käufer mit ihren Bedürfnissen maßgebend. Der Kunde ist Teil des Systems und seine Bedürfnisse stehen im Fokus. Diesen Wandel haben viele Unternehmen bisher wahrgenommen, jedoch die notwendigen Anpassungen im Unternehmen nicht durchgeführt.

Zum anderen ermöglicht technischer Fortschritt und globalisiertes Handeln auch sehr kleinen Unternehmen, am Markt innerhalb kürzester Zeit sehr erfolgreich zu sein. Die Geschwindigkeit von Innovation steigt.

Agilität ist keine neue Religion, sondern die Anwendung gesunden Menschenverstandes. Als erfolgreicher Unternehmer sollte man stets agil sein. Eines der konsequent agil handelnden Unternehmen ist Microsoft. Bill Gates verlangt von Microsoft, sich alle sieben Jahre zu erneuern und ist damit schon sehr lange sehr erfolgreich. Wer laufend beobachtet, was der Kunde, beziehungsweise der Markt will, muss sein Unternehmen und die Prozesse beweglich gestalten. Dabei müssen die agilen Grundsätze Transparenz, Überprüfung und Anpassung auf selbstverständliche unternehmerische Aktivitäten angewandt werden. Die Betrachtung des Umfelds, des Wettbewerbs und des Marktes, die Einbindung der Mitarbeiter und deren Know-how sowie Verantwortungsübernahme gegenüber den Mitarbeitern im Unternehmen sind die Grundelemente eines nachhaltig funktionierenden Managements.

Es gibt Unternehmen, die den gesellschaftlichen Wandel automatisch umsetzen: Start-ups. Sie haben moderne Strukturen und bilden lebendige Systeme, die den Kunden in den Fokus stellen. In einem permanenten Prozess leiten sie geeignete Maßnahmen für ein Problem ab und können auf Überraschungen schnell und innovativ reagieren, was einen wesentlichen Auslöser für Erfolg oder Untergang bedeutet. Verglichen mit großen und hierarchisch strukturierten Unternehmen sind Start-ups lebendig, überraschungsintensiv, flexibel und dynamisch. Ein unzeitgemäßes Unternehmen verfügt über wenig Bewegung und Flexibilität – im Falle großer Industrieunternehmen hat es sich womöglich schon seit den Zeiten der Industrialisierung nicht mehr verändert. Gerade diese zweite Art von Unternehmen hat durch den kulturellen Schock ein Problem mit Agilität. Wichtig ist es deshalb, nicht alles schwarz und weiß zu sehen, sondern den Prozess in den Vordergrund zu stellen: Wo auf der Linie zwischen zukunftsgewandt und dem Untergang geweiht steht mein Unternehmen? Und wo möchte ich hin?

 

Die Gefahr von Inkonsequenz und Vermischung

Transformation benötigt Zeit und Menschen, die das Thema tragen. Die Unternehmensleitung hat hier eine Schlüsselrolle inne und muss eine agile Kultur nicht nur einführen, sondern als wesentlicher Träger diese exemplarisch vorleben. Der Wandel zu einem agilen Unternehmen lässt sich hinsichtlich des zeitlichen Aufwands nicht in Stunden oder Tagen quantifizieren, es handelt sich vielmehr um einen nie endenden Prozess. Agilität funktioniert nur, wenn die Kultur entsprechend als Fundament bereitet ist. Dabei fehlt oft die Konsequenz in der Durchsetzung. Viele Manager starten agile Programme, weil das gerade en vogue ist. Scheitern diese halbherzig aufgesetzten Programme, weil die Voraussetzungen gar nicht gegeben sind, so gibt man agilen Methoden die Schuld für ein Scheitern und arbeitet weiter wie immer. Es bringt jedoch nichts, direkt »All-in« zu gehen, während die Kultur noch nicht etabliert ist.

Agil klingt einfach in der Beschreibung, ist jedoch komplex in der Umsetzung. Das »Agile Manifest« lässt zum Beispiel sehr viel Spielraum für Interpretation und damit auch für Fehlinterpretation in agilen Methoden zu. Da der Mensch dazu neigt, auf Bekanntes zurückzugreifen, kann es sehr schnell passieren, dass es zu einer Mischung von agilen und klassischen Methoden kommt.

Dabei ist gerade der Mix aus beiden Welten schlimmer, als sich auf das eine oder andere zu fokussieren. Die Interpretation agiler Toolsets treibt oft sonderbare Blüten, ein Beispiel hierfür ist Water-Scrum-Fall, welches versucht, positive Aspekte sowohl klassischen als auch agilen Projektmanagements miteinander zu kombinieren. Ähnlich wie beim Satz »Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass« sind solche Vorgehensweisen von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Ein Transfer agiler Grundgedanken über Schlagworte in hierarchische Strukturen verhält sich wie alter Wein in neuen Schläuchen. Gerade deshalb ist das Wort »Agil« durch die inkonsequente und falsche Anwendung mittlerweile oft negativ besetzt.

 

Wohin geht die Reise?

Unternehmen müssen lernen, Komplexität zu reduzieren und nicht – durch den Optimierungswahn getrieben – immer komplexere Systeme zu bauen. Denn diese werden der Marktdynamik nicht gerecht. Es ist essenziell, sich am Markt und nicht an der eigenen Perspektive zu orientieren, um den Fokus richtig und auf das, was wirklich wichtig ist, zu setzen. »Think outside the box« lautet daher die Devise der Stunde: die eigene, gewohnte Sichtweise verlassen. Erfahrungsgemäß funktioniert dies am besten mit der Hilfe von Experten, die nicht emotional gebunden sind, die das Unternehmen hin zum agilen Wandel begleiten und andere Perspektiven einbringen.

Kurzfristige Ziele bewirken kurzfristiges Denken, das wiederum vom Management in die gesamte Organisation übergeht. Die Messlatte muss aber final die Zufriedenheit des Kunden sein – und nicht unzählige KPIs. Eine Transformation ist nur dann möglich, wenn die Abkehr von Bonussystemen und Vierteljahresbilanzen hin zu längerfristigen Zielen, von fünf Jahren und länger, umgesetzt wird. Es mag einem paradox erscheinen, dass gerade der Wandel zur Agilität ein langfristiges Unternehmen darstellt, auf dessen Basis zukünftig schnell und flexibel gehandelt werden kann. Traditionelle Machtsysteme werden sich mehr und mehr in Kooperationssyteme mit unterschiedlichen Rollen wandeln. Dezentrale Autonomie in Entscheidungen wird die zentrale Steuerung über kurz oder lang ablösen, denn Entscheidungen müssen dorthin verlagert werden, wo sie auch getroffen werden. Vertrauen und Selbstvertrauen sind dabei die Grundpfeiler, nur so wird eine dezentrale Selbststeuerung möglich. Fundament für eine moderne Führung ist ein Wertesystem mit dem Werkzeug Leitbild-Entwicklung und einer langfristigen Vision. Effektive Kommunikation erfordert Augenhöhe und gegenseitigen Respekt, sodass sich die Mitarbeiter angstfrei einbringen und den Wandel mit vorantragen können.

 

Fazit

Agilität wird aktuell als das Wundermittel für alle Probleme dieser Welt dargestellt. Dieser Ansatz kann nur scheitern, weil es zum einen kein Universalwundermittel gibt und zum anderen, weil Agilität zukünftig zur Normalität werden wird. Der permanente Wandel ist das Charakteristikum in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts, entsprechend dem sich die Unternehmen verhalten müssen. Ob der Begriff »agil« sich in Zukunft halten wird bleibt offen, weil er nicht immer bestimmungsgemäß genutzt und ebensowenig nachhaltig umgesetzt wurde. Sicher ist nur, dass es dann einen neuen Begriff geben wird, der das Gleiche beschreibt.

Wer mit seinem Unternehmen den Wandel zur Agilität schafft, ist langfristig erfolgreich aufgestellt und kommt mit komplexen Aufgabenstellungen besser zurecht. Dies gilt nicht nur für große Firmen, wie Microsoft, Bosch und BMW, sondern insbesondere für den Mittelstand. Natürlich wird es auch weiterhin Unternehmen geben, für die Agilität keine Option darstellt. Alle müssen jedoch lernen, mit einer Welt der lebendigen Systeme umzugehen.

Agilität ist Transparenz, Überprüfung und Anpassung. Man könnte auch sagen: Steuerung. Wenn man Agilität in die einzelnen Bausteine zerlegt, kommt man erstaunlich nahe an die Grundelemente des vorausschauenden Managements: Ein guter Kapitän kümmert sich nicht nur um den Zustand seines Schiffs und der Besatzung, sondern analysiert den Wetterbericht und trifft danach seine Entscheidungen.

Gerd Kanzleiter, IT-Management, CONSILIO GmbH

www.consilio-gmbh.de

 

 

 

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